Wie eine US-Zeitung eine Auswanderungswelle mit auslöste
„Tausende sind nach Norden gegangen und tausende brechen immer noch auf, und eine Million wird (…) mit dem ‚Great Northern Drive’ losziehen. Die Misshandlung der Schwarzen durch die Weißen ist der einzige Grund für den Exodus. Es gibt hier die allgemeine Überzeugung, dass es Gottes Plan (…) ist, dass der [schwarzen] Rasse durch seine Fürsorge geholfen wird.“ (Chicago Defender, 10. Februar 1917, eigene Übersetzung)
Dieses Zitat aus der Zeitung Chicago Defender verkörpert den Geist der „Great Migration“, einer der größten Völkerwanderungen in der Geschichte der USA. In den 1910er und 1920er Jahren zogen hunderttausende Afroamerikaner von den Südstaaten in den Norden. Enthusiastische Berichte in den Zeitungen, aber auch von Freunden und Familienmitgliedern motivierten sie. Viele, wie der Autor des obigen Zeitungsartikels, betrachteten die „Great Migration“ als einen Exodus im biblischen Sinne.
Es gab viele Gründe auszuwandern: In den Südstaaten galten in den Zwanzigern immer noch die grausamen „Jim-Crow“-Gesetze, die es Schwarzen zum Beispiel verboten, die gleichen Toiletten wie Weiße zu benutzen. Im Norden dagegen gab es formal keine Rassentrennung. Viele Auswanderer versuchten also, ihre Lebensumstände zu verbessern. Außerdem versprach der Norden mehr und besser bezahlte Jobs—vor allem, weil in dieser Zeit kaum europäische Immigranten in die USA kamen. Deshalb hatten die boomenden Fabriken großen Bedarf an Arbeitern. Sie stellten mehr und mehr Afroamerikaner ein. Die „Great Migration“ veränderte die Bevölkerungsstruktur in den USA stark: Es war der Beginn der „Urbanisierung der Afroamerikaner im 20. Jahrhundert“, wie der Historiker Milton Sernett schreibt.
Zeitungen von und für Afroamerikaner, wie der Chicago Defender, spielten eine wichtige Rolle für die Auswanderer. Sie waren Teil eines Netzwerks aus verschiedenen Quellen, aus denen die Auswanderer sich über ihre Reise informierten. Der Chicago Defender warb für die Migration, berichtete aber auch über Probleme.
In meiner Hausarbeit für ein Seminar über die Zwanziger Jahre habe ich damit beschäftigt, wie afroamerikanische Zeitungen über das Auswandern berichtet haben. Der Chicago Defender, zu der Zeit eine der meistgelesenen afroamerikanischen Zeitungen, war ursprünglich nur ein Lokalblatt. Weil er aber so packend und innovativ berichtete, interessierte sich bald der ganze Süden dafür. Afroamerikanische Eisenbahn-Arbeiter, aber auch Musiker brachten den Chicago Defender in die Südstaaten.
Die Berichte im Defender waren schonungslos: Gewaltverbrechen wie Vergewaltigungen von schwarzen Frauen durch weiße Männer wurden detailliert geschildert. Gleichzeitig pries die Zeitung den Norden als eine Art biblisches Paradies an, wo es den Afroamerikanern besser gehen sollte. Außerdem gab der Chicago Defender praktische Tipps, wie sich die Auswanderer in der neuen Heimat verhalten sollten:
„Seien Sie mit Ihrer gewöhnlichen Straßenkleidung so sorgfältig wie mit Ihrem Anzug für den Kirchgang am Sonntag. Erscheinen Sie nicht in Hausschuhen, Schlafmützen oder Schürzen auf der Straße.“
Der Chicago Defender war eine wichtige Informationsquelle für Afroamerikaner. Die Zeitung nutzte die große Nachfrage und wurde zu einer Art Leitmedium, indem sie reißerisch, aber auch informativ über die „Great Migration“ berichtete.
Wer meine Hausarbeit im Detail nachlesen möchte, kann das hier tun.
Ich empfehle außerdem einen Artikel von Ethan Michaeli, der ein ganzes Buch über die Geschichte des Chicago Defender geschrieben hat.